"Ich habe mich im Spiegel nicht mehr erkannt"

Plötzlich ohne Gedächtnis: Max verlor mit 17 seine ganze Vergangenheit

Ein junger Mann mit stechend blauen Augen hält ein Schild mit großem Fragezeichen vor sein Gesicht auf grauem Hintergrund.
© Adobe Stock / Yevhen
Wie muss es sich wohl anfühlen, wenn alle Erinnerungen plötzlich ausgelöscht sind? Ein junger Mann hat darüber geschrieben.

Wie ist es, wenn man sein Gedächtnis von heute auf morgen verliert? Wenn man niemanden mehr erkennt, nicht einmal die Familie? Wenn alle plötzlich Fremde sind, alles fremd ist? Ein Betroffener hat mit BILD der FRAU darüber gesprochen.

"Die Bourne Identität", "50 erste Dates", "Ich darf nicht schlafen": Unzählige Filme beschäftigen sich mit dem Thema Amnesie. Aber ist der totale Gedächtnisverlust eher eine Taktik, um die Spannung im Kino zu erhöhen, oder gibt es ihn wirklich?

Was steckt hinter einem Déjà-vu?

Es gibt ihn, weiß Max Rinneberg. Der junge Mann hat mit 17 sein Gedächtnis durch einen Treppensturz verloren. Unwiederbringlich, ausgelöscht, für immer. Die alltäglichen Dinge waren nicht das Problem, er konnte nach wie vor laufen, sprechen, schreiben, er funktionierte sozusagen. Aber alles, was ihn einmal ausgemacht hat, war weg. Er erkannte Familie und Freunde nicht mehr, seinen einstigen Hobbys konnte er nichts mehr abgewinnen, kurz: Er hatte keine Vergangenheit mehr.

Wie ist so ein Leben ohne Erinnerungen, kann man sich wieder zurecht- und zu manchem zurückfinden, und wie fühlt sich das an? Max Rinneberg hat ein Buch darüber geschrieben – mit BILD der FRAU hat er über sein neues Leben gesprochen.

Wenn das Gedächtnis gelöscht ist: Ein Mann erzählt von seiner Amnesie

BILD der FRAU: Lieber Herr Rinneberg, woran haben Sie gemerkt, dass Sie Ihr Gedächtnis verloren haben?

Gemerkt habe ich das erst, nachdem diese Frau an meiner Seite stand, meine Hand hielt und gesagt hat, sie sei meine Mutter. Das in der Kombination, dass ich dachte, ein Neugeborenes zu sein und nicht in diesem ausgewachsenen Körper stecken zu dürfen, hat mich komplett aus dem Konzept gebracht. Da wusste ich, dass etwas nicht stimmt. Realisiert habe ich das dann eigentlich einen Augenblick später. Dann nämlich, als ich mich selbst im Spiegel nicht erkannt habe. Auch meine Schwester nicht wiedererkannte und schließlich nicht wusste, wo ich denn bin.

Wie sind Sie mit der Erkenntnis umgegangen?

Gar nicht. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll. Weder konnte ich mich dagegen wehren und etwas tun, mich zu erinnern. Noch wusste ich, wie ich es auch tun sollte. Wo sollte ich ansetzen? Ich habe es schließlich bei der Familie bzw. den Menschen getan, die gesagt haben, sie sind meine Familie. Ich war erst mal wie gelähmt.

Ich musste meine Familie neu kennenlernen

Wie ist es, wenn man früheren Leidenschaften plötzlich nichts mehr abgewinnen kann?

Ich konnte mir selbst schwer vorstellen, was ich an dem Laufen und Sport toll gefunden haben soll. Vermutlich fühlt es sich an wie bei Ihnen, wenn jemand sagt, er will mit einem Jumpsuit einen Berg herunter springen. Man schüttelt den Kopf und fragt sich, warum man wohl so etwas Verrücktes und Beklopptes tut. Da ist nur Unverständnis.

Hat sich das Verhältnis zu Ihnen nahe stehenden Personen geändert?

Definitiv. Ich musste meine Familie ja neu kennenlernen. Von vorne anfangen und herausfinden, was geht und was nicht geht. Erfahren, was sie mögen und was nicht. Und dann habe ich mich auch kennenlernen müssen. Ich war anfangs etwas distanzierter. Heute sind wir aber – so denke und fühle ich – sehr eng aneinander gewachsen. Gestärkt und mit einer innigen Bindung.

Welchen Erinnerungsverlust empfinden Sie als am schmerzlichsten – sofern Sie das sagen können?

Kann man etwas vermissen, was man nicht kennt? Was ich gerne wissen würde, wie war der erste Kuss und mit wem? Wie war es in der Schule und im Kindergarten? Wie war das an Weihnachten, als man noch an das Christkind glaubte? Glaubte ich an das Christkind? Wie waren die schönen Momente im Urlaub und vor allem Alltag mit der Familie?

Heute wird mich nichts mehr  umhauen

Können Sie auch einen lustigen Moment nennen, der mit dem Gedächtnisverlust einherging?

Ursprünglichen Freunden zu begegnen und sich vorzustellen – wobei die andern einen ja kennen. Irgendwie muss ich heute drüber schmunzeln.

Wer oder was hat Ihnen in der Zeit geholfen?

 

Meine Familie mit ihrer unendlichen Geduld, Vertrauen und Liebe!! Und das leere Blatt Papier, dem ich mich in erster Zeit als einzigem Vertrauten öffnen konnte.

An wie viel können Sie sich heute erinnern?

Leider noch immer an nichts.

Würden Sie sagen, Sie haben für Ihr Leben durch diesen Einschnitt auch etwas hinzugewonnen?

Heute wird mich nichts mehr so umhauen – nichts kann mehr so schwer und schlecht sein, um aufgeben zu wollen. Ich bin stark geworden, doch recht sensibel für Menschen und emotional, auch wenn ich dies nicht immer zeige. Ich denke viel nach und reflektiere – ein weiterer großer Gewinn ist, dass ich kein Schubladendenken habe, relativ frei und neugierig bin.

Was ist Ihr Tipp an alle, die Ähnliches erleiden?

Sich bewusst werden, dass es auch eine Chance ist! Eine Chance, sich selbst genau und intensiv kennenzulernen! Eine Chance, mit der Neugier Altes und Neues zu entdecken – und zwar ganz bewusst zu entdecken!

Was ist Ihr neues Lebensmotto?

Was dir geschehen ist, es mag vergehen. Was daraus geformt, das soll bestehen. Neugier und Mut behalten! Es gibt immer einen Weg.

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