Blau ist nicht für Jungs

Was definiert das Geschlecht meines Kindes?

Zwei Kinder tragen Bademäntel in rosa und blau.
© Shutterstock/FamVeld
Hinweise auf die Identität dieser beiden Kinder liefern die Farben der Bademäntel. Was, wenn diese bunt, grün oder weiß wären?

Fühle ich mich als Junge, als Mädchen oder nichts von beidem? Die Frage nach dem Geschlecht beginnen sich Kinder bereits als Kleinkinder zu stellen. Für Eltern oder Erziehungsbegleiter*innen ist es daher wichtig, auf Fragen nach Geschlecht und Identität vorbereitet zu sein und altersgerecht mit Kindern darüber zu reden. BILD der FRAU sprach mit Sexualpädagogin Janina Stengel.

Junge oder Mädchen? Liebe Janina, darf ein Paar sich während einer Schwangerschaft diese Frage überhaupt noch stellen bei der Gender-Debatte, die im Hintergrund läuft?

Janina Stengel: "Natürlich dürfen sich werdende Eltern Gedanken über das Geschlecht ihres Kindes machen. Bei dieser Frage geht es nicht um Verbote, sondern darum, einen inklusiven Raum zu schaffen und die Möglichkeit mitzudenken, dass Geschlecht mehr sein kann, als Junge oder Mädchen. Während einer Schwangerschaft kann sich ein Paar erst einmal nur auf das berufen, was der Ultraschall zeigt, nämlich die primären Geschlechtsorgane Penis oder Vulva. Ob dieses sogenannte "biologische Geschlecht" mit dem tatsächlich gefühlten Geschlecht eines Kindes später übereinstimmt – das können Eltern erst einmal nur abwarten und sich über den kleinen Menschen freuen."

Die Sexualpädagogin Janina Stengel lächelt direkt in die Kamera. | © Janina Stengel
Foto: Janina Stengel
Janina Stengel klärt als Sexualpädagogin auch zum Thema Geschlecht auf.

Menschen wollen es einfach haben

Wieso muss man überhaupt darüber diskutieren, wenn ein Junge mit Puppen spielt und Glitzer liebt oder ein Mädchen lieber zu Blau oder Grün als zu Pink greift?

"Wir Menschen denken in Kategorien. Das vereinfacht unser komplexes Leben. Historisch und kulturell haben sich bei uns starke Bilder festgesetzt, was sich für einen Jungen oder Mädchen "gehört". Alles, was dieser Norm widerspricht, irritiert erst einmal, weil unsere gewohnten Schubladen nicht passen. Aber: Die Annahme, dass eine Vorliebe für bestimmte Spielsachen oder Farben etwas über das Geschlecht oder sogar die sexuelle Orientierung aussagt, ist überholt."

Und: Homosexualität kämpft noch immer mit Vorurteilen.

"Der Klassiker ist ja die Vorstellung, dass Menschen Angst haben, ihr Sohn könnte schwul werden, weil er mit Puppen spielt. So funktioniert die Entwicklung von sexueller Orientierung aber nicht, ein Spielzeug allein beeinflusst das nicht. Die Diskussion darüber besteht, weil Menschen Angst haben, ihr Kind könnte aus der Norm fallen und in der Konsequenz Ablehnung, Mobbing, Ausschluss erfahren. Verständlich, dass sich niemand das für sein Kind wünscht."

Blau war mal eine "Mädchenfarbe"

"Tatsächlich galt blau bis Anfang des 20. Jahrhunderts sogar als "Mädchenfarbe", erst in den 1940ern fand ein "Geschlechterfarbenwechsel" statt. Wichtig finde ich zu sagen: Farben, Spielzeug und Kleidung haben per se kein Geschlecht, wir Menschen weisen ihnen diese Bedeutung zu. Das heißt auch, wir können unsere Sichtweise ändern. Farben und Spielsachen sind für alle da – Hauptsache, das Kind hat seine Freude daran."

 

"Die ist ja süß, die Kleine." ÄHM, nein. Wie reagiert man als Eltern, wenn das Geschlecht des eigenen Kindes verwechselt wird?

"Mit Ruhe und etwas Selbstreflexion: Warum irritiert es mich so stark, dass das Geschlecht meines Kindes verwechselt wird? Welche Vorstellungen verbinde ich mit Geschlecht? Warum ist es mir wichtig, dass mein Kind als einem bestimmten Geschlecht zugehörig erkannt wird? Es ist in Ordnung, aufgebracht und irritiert zu sein. Man ist stolz auf sein Kind, freut sich vielleicht über ein bestimmtes Geschlecht und möchte das anerkannt wissen. Dementsprechend reicht es, eine einfache und freundliche Korrektur anzufügen, wenn es einem wichtig ist: "Stimmt, mein Kind ist ziemlich süß – es handelt sich dabei um einen Jungen."

Gefühle wie Irritation sind ok

Sollte uns solch eine Verwechslung überhaupt etwas ausmachen?

"Menschen sind individuell, ebenso ist es die Freude und Wichtigkeit über ein bestimmtes Geschlecht. Während einige Menschen eine solche Verwechslung nicht irritiert, ärgern sich andere darüber. Alle Emotionen sind in Ordnung – besonders wenn es um das eigene Kind geht."

Ab wann entwickeln Kinder eigentlich ein eigenes Bewusstsein über ihr Geschlecht?

"Kinder beginnen bereits als Kleinkinder ein eigenes Bewusstsein über ihr Geschlecht zu entwickeln. Mit dem zweiten, dritten Lebensjahr beginnt ein spielerisches Entdecken der Genitalien und darüber hinaus ein Bewusstwerden der Geschlechtszugehörigkeit; auch losgelöst von Genitalien. Mit dem 4. Lebensjahr sind sich Kinder bereits sehr sicher über ihre Geschlechtsidentität. Zudem haben Kinder viel Freude daran, den eigenen und Körper anderer zu entdecken und sich zu vergleichen. Kinder machen diese körperliche Erkundung – im Gegensatz zu Erwachsenen – spontan, spielerisch. Und nicht auf Erregung oder Befriedigung ausgerichtet."

 

Elternhaus prägt kindliche Geschlechts-Entwicklung stark

Ich denke jetzt an Eltern, die ihre Kinder gern in Rosa oder Blau stecken. Aber auch an Eltern, die das absichtlich nicht tun und auf Blau oder Rosa verzichten. Wie viel haben die Eltern damit zu tun?

"Tatsächlich prägt das Elternhaus sehr stark. Studien zeigen, dass Eltern ihre Kinder anders wahrnehmen und behandeln, je nachdem, welches Geschlecht ihr Kind hat. Auch Eltern sind eingebunden in gesellschaftliche Strukturen. Wenn die Zahnbürstenverpackung bereits rosa oder blau ist, in der Werbung nur Mädchen mit Puppen gezeigt werden oder in Büchern primär Jungen als starke Ritter auftreten und sowohl Eltern als auch Kinder das von Anfang an aufnehmen, dann ist es für alle Beteiligten durchaus herausfordernd, für sich losgelöst Vorlieben zu entwickeln. Mag ich als Kind diese Farbe, weil sie mir gefällt oder weil ich sie überall einem Geschlecht zugeordnet sehe?"

Und schon beginnen sich bestimmte Rollen zu bilden.

"Was zu Beginn eines Lebens vielleicht noch niedlich wirkt und harmlos erscheint, kann die spätere Entwicklung beeinflussen; so können sich verfestigte Rollenbilder zum Beispiel auf die Berufs- und Karriereplanung auswirken. Wenn zum Beispiel in den schulischen Leistungen die Erwartung sei, dass Jungen in Mathematik oder Informatik besser sind als Mädchen.

Auch hier ist Selbstreflexion das Zauberwort, Offenheit und Vertrauen sollte aufgebaut werden und die Frage, die sich Eltern stellen können: Wie stehe ich eigentlich zu Geschlecht? Welche Botschaften möchte ich meinem Kind mitgeben? Welche Alternativen kann ich finden oder bin ich fein damit? Das ist eine sehr individuelle Entscheidung, sollte aber bestenfalls in Absprache mit dem Kind erfolgen."

Neben den Eltern, welche Hauptfaktoren prägen das kindliche Geschlecht? Ich denke jetzt an Biologie, Psychologie, Soziologie.

"Geschlechtsentwicklung ist komplex. Für die Entwicklung gilt, wie für alle Lebensbereiche, dass es ein individueller Prozess ist, der ein Leben lang fortbesteht. Es ist eine Mischung aus Biologie, Soziologie, Pädagogik, Religion, Geschichte. Welche Bedeutung Geschlecht beigemessen wird und wie dieses beeinflusst wird, ist auch immer abhängig von der Kultur und Zeit, in der wir leben, welche Medien wir konsumieren und mit welchen Menschen wir uns umgeben."

Begrifflichkeiten reichen bis in die frühe Neuzeit zurück

Wer denkt sich eigentlich Bewertungen wie Tomboy für ein burschikoses Mädchen oder Femboy für einen sanften Jungen aus? Und was machen wir am besten damit?

"Viele dieser Begriffe sind historisch gewachsen und nicht unbedingt ein Phänomen unserer Zeit, auch wenn es oft so scheinen mag. Den Begriff Tomboy gibt es beispielsweise schon seit dem 16. Jahrhundert. Von daher lassen sich viele Begriffe nicht unbedingt auf einen Ursprung zurückverfolgen; soziale Medien wie Instagram oder TikTok unterstützen bei der Verbreitung bestimmter Begrifflichkeiten heutzutage aber natürlich."

Auch hier haben wir sie wieder: die Kategorien.

"Schlagwörter geben uns ein bestimmtes Bild vor und wir erwarten, dass sich Menschen dementsprechend verhalten. Menschen sind aber keine Schablonen, sondern haben verschiedene Vorlieben, Interessen Gefühle. Vielleicht treffen einige Zuschreibungen eines "Tomboys" auf eine Person zu, aber nicht alle. Die Frage sollte immer sein: Wie identifiziert sich die Person selbst? Passen die Zuschreibungen für sie? Menschen können sich ein Leben lang entwickeln; das, was im Kindergarten vielleicht einmal Thema war, hat sich mit der Pubertät vielleicht verändert. In diesem Sinne: Die Personen am besten selbst fragen und mit ihr reden, anstatt über sie."

Bis 2021 kein Gesetz, welches intergeschlechtliche Kinder vor Operationen schützte 

Tabuthema Intersexuell/Intergeschlechtlich: Statistisch gesehen kommt 1 von 500 Kindern mit beiden Geschlechtern zur Welt. Warum ist das Wissen dazu in unserer Gesellschaft quasi nicht existent?

"Das biologische Geschlecht eines Menschen ist auf verschiedenen Ebenen ablesbar: über die Chromosomen, die Hormone und die Geschlechtsorgane. Bei Intersexualität hat eine Person sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale. Erst in den vergangenen Jahren hat die Wissenschaft begonnen, die Ursachen und Auswirkungen von Intersexualität zu erforschen. Das Wissen existiert nicht, weil in unserer Gesellschaft nach wie vor die "Eindeutigkeit" die Norm ist und Abweichungen lange Zeit ignoriert oder medizinisch behoben wurden. Es war leider schlicht und einfach "kein Platz" für Abweichung. Noch heute findet man in Biologiebüchern vor allem Beschreibungen zu Männern und Frauen, sehr binär. Zu dem Thema braucht es noch viel Aufklärung und dass intersexuellen Menschen zugehört und eine Stimme gegeben wird."

Wie wachsen heutzutage Kinder mit beiden Geschlechtern auf – ich weiß, dass noch bis in die frühe Vergangenheit teilweise der Arzt einfach ein Geschlecht bestimmt hat ohne die Eltern überhaupt darüber aufzuklären?

"Das stimmt leider. Erst seit 2021 sind in Deutschland Behandlungen offiziell verboten, die nur das Ziel haben, das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an das des männlichen oder des weiblichen Geschlechts anzugleichen. Jahrzehntelang waren solche Operationen an Babys und Kleinkindern üblich. Sie basierten auf der Vorstellung, dass Kinder mit einem eindeutig wirkenden Geschlecht ein leichteres Leben führen könnten. Tatsächlich sorgten solche medizinisch unnötigen Eingriffe häufig für großes Leid, da sie ohne Zustimmung der Behandelten erfolgten und schwere gesundheitliche Folgen nach sich ziehen konnten. Die Betroffenen selbst erfuhren in vielen Fällen erst später im Leben von der Behandlung."

Unfassbar. So spät wurde erst reagiert, dass ist ja grad mal zwei, drei Jahre her.

"Medizinische Eingriffe, seien sie chirurgisch, medikamentös oder hormonell, dürfen ausschließlich aufgrund der informierten Einwilligung der betroffenen intersexuellen Menschen erfolgen. Zum Glück gibt es mittlerweile ein stärkeres Bewusstsein für das Thema, Interessensverbände und Austauschgruppen, doch es ist noch ein weiter Weg, der leider oft noch von Irritation, Ablehnung und Leid geprägt ist."

Was wäre die natürlichste, also ihrem Wesen entsprechende Begleitung für intersexuelle Kinder?

"Notwendig sind umfassende und vorurteilsfreie Informationen für Eltern intersexueller Kinder. Das Thema Intersexualität muss in die Ausbildung medizinischer und sozialer Berufe Eingang finden und gesamtgesellschaftlich mehr Thema werden! Alle Menschen haben ein Recht auf freie Entfaltung und Entwicklung."

Warum ist Gendern ein Reizthema?

 Das Gendern sorgt ja auch seit einiger Zeit für Diskussionen.

"Gendern ist in den letzten Jahren ein sehr präsentes Thema geworden, an dem sich viele Menschen reiben. Es ist auch ein emotionales Thema, weil es unseren bisherigen Blick auf Sprache und Geschlecht herausfordert. Gewohnte Sichtweisen und vermeintliche Einfachheit von Geschlechtskategorien zu verändern ist nicht leicht – aber wichtig.

Denn: Menschen, die nicht männlich oder weiblich sind, existieren. Das sind medizinische Fakten. Vor allem aber sollte Menschen zugehört werden, wie sie ihr eigenes Geschlecht definieren, denn das kann eine Person nur für sich selbst und nicht für andere bestimmen. Es kann unsere Gesellschaft inklusiver machen.

Das bedeutet nicht, dass jede Person sprachlich gendern muss, es ist eine persönliche Entscheidung – für mehr Offenheit und Toleranz. Wir sind alle unterschiedlich, warum diese Vielfalt nicht anerkennen? Vielfalt ist die Norm."

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