"Ich wusste nicht mehr, wer ich bin" – wie du dich aus emotionaler Abhängigkeit befreist

Toxische Beziehungen bringen viele Frauen an ihre Grenzen – emotional, körperlich, seelisch. Psychologin Katharina Samoylova erzählt im Interview von einer Klientin, deren Geschichte für viele Betroffene stehen könnte – und zeigt, wie echte Heilung möglich wird.
"Ich habe mich selbst nicht mehr wiedererkannt" – wenn Frauen sich verlieren
Katharina Samoylova arbeitet als Psychologin und Mentorin für Frauen nach toxischen Beziehungen. Julia ist eine davon: Sie hatte nach außen ein perfektes Leben – Job, Familie, Sicherheit. Als sie nach der Trennung ihren Kleiderschrank öffnete, spürte sie plötzlich nur noch Leere. Ihre Entscheidungen, ihr Stil, ihre Prioritäten – nichts fühlte sich nach ihr selbst an.
"Ich habe mich selbst nicht mehr wiedererkannt", sagt sie später. Die Trennung lag erst wenige Wochen zurück. "Hätte ich meine Tochter nicht gehabt, weiß ich nicht, ob ich noch da wäre" – so ihre Worte, erinnert sich Katharina Samoylova.
Wie konnte es soweit kommen? Was hat Julia gerettet? Das liest du hier.

Warum toxische Beziehungen oft so vertraut wirken
Julia beschreibt im Nachhinein, wie ihr Vater bereits narzisstische Züge gezeigt habe – die toxische Dynamik in ihrer Partnerschaft fühlte sich für sie deshalb "wie Heimat" an. Sie hatte sich immer wieder angepasst, ihre eigenen Bedürfnisse hintenangestellt, wollte retten, helfen, halten.
Ein Muster, das Katharina Samoylova aus ihrer Arbeit kennt: "Wir verlieben uns selten zufällig. Unser Nervensystem ist auf Muster aus der Kindheit konditioniert – selbst wenn sie uns schaden. Was sich vertraut anfühlt, zieht uns magisch an, auch wenn es toxisch ist."
Kontrolle, Schuldgefühle, Zusammenbruch
In Julias Fall kommen mehrere Belastungen zusammen: Ihr Mann rutscht in die Drogenszene ab, beginnt eine Affäre, macht sie für die Eheprobleme verantwortlich. Julia schläft kaum noch, verliert Gewicht, isst und trinkt kaum. "Ich war in diesem Kontrollwahn. Ich habe gar nicht mehr gelebt – nur noch gedacht: Wie kann ich diese Ehe retten?"
Lange glaubt sie, selbst schuld zu sein: "Vielleicht habe ich ihn wirklich dazu getrieben."
"Narzissten drehen die Realität so lange, bis ihr Gegenüber sich schuldig fühlt – und damit kontrollierbar bleibt", erklärt Katharina Samoylova. "Die Betroffenen glauben irgendwann wirklich, sie seien das Problem."
Trennung bedeutet Entzug – auch körperlich
Julia braucht drei Monate, um sich innerlich zu lösen. Sie plant die Trennung heimlich, mit Hilfe von Freund*innen. Die Belastung ist enorm: Zwei Nervenzusammenbrüche folgten.
Was viele nicht wissen: Die Symptome sind kein "Liebeskummer", sondern ähneln einem körperlichen Entzug.
"Das Gehirn reagiert auf den Wechsel aus Nähe und Distanz in toxischen Beziehungen wie auf Drogen – mit Dopamin und Entzugsstress", so Katharina Samoylova.
"Emotionale Abhängigkeit ist neurologisch einer Sucht sehr ähnlich. Deshalb reicht rationales Verstehen oft nicht aus."
Wenn klassische Therapie nicht genügt
Julia sucht Hilfe – zunächst bei einer Gesprächstherapeutin. Sie spricht viel über die Beziehung, weint, reflektiert. Doch sie merkt: Es geht nicht wirklich voran.
"Mein Fokus lag am Anfang noch viel auf ihm und weniger auf meiner eigenen Heilung. Ich bin eine Person, die gerne Anleitung möchte: Welche Schritte muss ich durchführen? Ich konnte darüber reden und mich ausweinen, aber ich wusste nicht, wie ich da wieder rauskomme."
Neun Monate vergehen – bis sie auf Katharina Samoylova stößt. Julia ist skeptisch, fühlt sich nach ersten Gesprächen aber wohl. Die Herangehensweise ist neu für sie: körperorientiert, tiefenpsychologisch – mit Methoden wie EFT-Klopftechnik.
Ein Moment der Erkenntnis – ausgelöst durch eine Zahl
In einer Sitzung geschieht dann etwas Unerwartetes.
Katharina Samoylova erinnert sich: "Während einer Klopfübung – einer körperorientierten Methode namens EFT – fragte ich plötzlich: 'Wie alt ist deine Angst? Welche Zahl kommt dir gerade in den Kopf?'"
Julia nennt spontan eine Zahl – und plötzlich ist sie wieder mitten in einer alten Erinnerung, einem verdrängten Erlebnis aus der Jugendzeit.
„Ich war fassungslos", sagte Julia später. „Sie hatte mich mit einer einfachen Frage direkt dorthin geführt, wo alles begann. Sie ist schnell dazu gekommen, wo das alles herkommt aus meiner Kindheit und Jugend – dieses ‚Du bist nicht gut genug‘."
Katharina Samoylova erklärt: "Bei emotionaler Abhängigkeit reicht es nicht, nur zu verstehen warum man so handelt – der Körper muss lernen, sich wieder sicher zu fühlen. Klassische Gesprächstherapie ist wertvoll, um Muster zu erkennen. Aber wenn das Nervensystem in ständiger Alarmbereitschaft ist, braucht es zusätzlich körperorientierte Methoden, um die emotionalen Spuren im Unterbewusstsein zu lösen."
Heilung, die körperlich spürbar wird
Julia beschreibt die Wirkung der Klopftechnik sehr konkret: "Wenn man gerade viel geweint hat und dann diese Klopfübungen macht, merkt man, dass das Nervensystem runtergeht."
Nach den Sitzungen sei viel passiert, sagt sie. "In den Tagen danach fing es an, im Köpfchen zu rattern. Viele Ereignisse kamen hoch, die damit in Verbindung standen. Zusammenhänge wurden klar."
Nach dem Ende der gemeinsamen Arbeit hatte sie schließlich Werkzeuge für den Alltag, sagt Julia: "Auch nachdem ich die Therapie beendet habe, hat sie mir Übungen mitgegeben – um mein Nervensystem wieder zu resetten. Das hat mir extrem viel gebracht."
Und weiter: "Es hat etwas in meinem Unterbewusstsein gemacht – so ein bisschen wie Hypnose, ohne dass ich viel aktiv dafür tun musste."
Grenzen setzen – für sich selbst einstehen – wieder frei sein
Ein Jahr nach der Trennung hat sich vieles verändert. Julia hat nicht nur die Beziehung, sondern auch den Kontakt zu ihrem narzisstischen Vater beendet: "Der eigene Vater ist noch etwas anderes als ein Partner. Am Anfang war das sehr schwierig. Aber ich fühle mich so viel befreiter, diese Menschen aus meinem Leben eliminiert zu haben."
Sie lebt selbstbestimmt, reist mit ihrer Tochter, erkennt toxische Muster frühzeitig. "Ich merke seitdem, dass ich Red Flags viel schneller erkenne. Dann sage ich: Stopp, halt – bis hierher und nicht weiter. Ich lasse mich nicht mehr so schnell manipulieren. Ich habe das Gefühl, dass ich viel stärkere Grenzen aufsetzen kann."
Ihr Fokus, sagt sie, liegt jetzt viel stärker auf ihr und ihrer Tochter: "Für sie muss ich stark sein, und ich will auch stark sein." Die Klopftechnik sieht sie als guten Start, um zu verstehen, wo es herkommt, und im Gehirn zu verankern: Du bist gut genug. Man braucht nicht die Aufmerksamkeit von außen.
Julias Botschaft an andere Frauen
"Ich hoffe, dass mehr Frauen sich aus diesen Beziehungen befreien und an sich selbst glauben. Man ist stark, wenn man möchte. Man muss diesen Schritt tun, der hart ist und schmerzhaft. Aber ich schaue zurück und sage: Es war das Beste, was mir passieren konnte – diese toxische Beziehung zu beenden und mir aktiv Hilfe zu holen von Experten."
"Es ist wichtig, dass man sich Hilfe holt", resümiert Julia heute. "Ich fand die Kombination wirklich sehr gut – Gesprächstherapie und gleichzeitig diese Klopftechniken. Manchmal fühlt man sich, als ob die Gesprächstherapie an ihre Grenzen kommt. Mit solchen Klopftechniken wird das Ganze unterstützt."
Ebenfalls wichtig für sie: "Mich aus der Ehe zu befreien und den Kontakt zu meinem Vater abzubrechen – das war das Beste, was ich je für mich tun konnte. Dann war dieser harte Cut einfach notwendig, damit ich mein Leben wieder in den Griff bekomme." Denn, fährt sie fort: "Ich bin fast 40. Ich habe noch über die Hälfte meines Lebens vor mir. Und diesmal bestimme ich, wie ich es lebe."
Katharina Samoylova weiß: Heilung ist möglich – aber sie beginnt mit einem ehrlichen Blick nach innen. Julias Geschichte ist nur eine von vielen. Sie führt uns aber sehr deutlich vor Augen, was sich verändern kann, wenn Frauen sich Unterstützung holen und sich selbst wieder an erste Stelle setzen.
→ Mehr über unsere Expertin erfährst du auf der Website von Katharina Samoylova, Psychologin und Mentorin für Frauen nach toxischen Beziehungen.
Ach für diese Artikel stand Katharina Samoylova uns schon als Interview-Partnerin zur Seite:
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