Psychologie: Warum ist die Beziehung zu meiner Schwester so kompliziert?
Missverständnisse und mangelnde Wertschätzung können, wie in jeder anderen Beziehung, die Bindung zwischen Schwestern bis zum Bruch miteinander belasten. Welche geschwisterlichen Themen führen häufig zu Konflikten? Und wie lassen sich diese auflösen?
Wenn man sich versteht, kann es die innigste Beziehung sein. Wenn nicht ein schmerzvoller Zustand. Beziehungen zwischen Schwestern gibt es in jeder Gefühlsfarbe zwischen größter Nähe und absoluter Distanz bis zur zeitweiligen Trennung oder zum Kontaktabbruch. Wenn man kein On-Off-Verhältnis mit seiner Schwester haben will, gibt es jedoch Wege, die Konflikte zu bearbeiten.
Wie das geht, wissen Cordula und Barbara Ziebell am besten. Die beiden Coaches sind selbst Schwestern, haben sich auf Geschwisterbindungen spezialisiert und darüber mit BILD der FRAU gesprochen.
Zwei Geschwister-Coaches über Konflikte unter Schwestern
Liebe Cordula Ziebell, liebe Barbara Ziebell, wie sieht Ihre eigene Schwesternkonstellation aus?
Wir liegen dreieinhalb Jahre auseinander. Als Ältere verlor Barbara mit der Geburt von Cordula die Position des einzigen Kindes und der "kleinen Süßen" und ihr wurde von unseren Eltern die Rolle der "Großen und Vernünftigen" zugetragen. Cordula war nun die "Kleine", "Süße", "Wilde", die lange versuchte, den Alters- und Erfahrungsvorsprung einzuholen. Das hat natürlich auch zu Problemen zwischen uns geführt. Wir haben uns oft gezofft, aber auch heiß und innig geliebt.
Auch im Erwachsenenalter hatten wir noch einige – durch tief sitzende Kindheitserfahrungen automatisierte – Gewohnheiten, Denkmuster und Verhaltensweisen, die uns zunächst nicht bewusst waren. Unsere alten Rollen ploppten zu Beginn unseres gemeinsamen Schwestern-Projektes dann auch ab und zu auf, wie etwa Barbaras Angewohnheit, bei Außenkontakten immer sofort die Initiative zu ergreifen, vorzupreschen und verbal zu dominieren. Und dementsprechend Cordulas Verhaltensweise, sich eher zurückzuhalten und immer stiller zu werden.
Doch durch offene, konstruktive und verständnisvolle Gespräche konnten wir diese Muster enttarnen, Schicht für Schicht abtragen und auflösen. Und jetzt wertschätzen wir unsere unterschiedlichen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften noch mehr und nutzen sie als Bereicherung für unsere gemeinsame Arbeit.
Welche Muster tauchen in konfliktreichen Schwesternbeziehungen gehäuft auf?
Zum Beispiel ein Harmoniedruck. Besonders unter Schwestern besteht eine große Erwartungshaltung vonseiten der Familie und auch der Gesellschaft, sich verbunden fühlen zu müssen. Auch die Frauen selbst leiden unter diesem Druck und entwickeln häufig Schuldgefühle, wenn keine Nähe empfunden wird.
Die Gratwanderung zwischen einer großen Nähe einerseits und dem Wunsch nach Abgrenzung andererseits, um eine eigene Identität als Mädchen/Frau zu entwickeln. Das kann zu starken gefühlsmäßigen Ambivalenzen führen.
Was sind mögliche Ursachen dafür?
Eine der Ursachen liegt darin, dass Mädchen immer noch häufig dahingehend erzogen werden, lieb und nett (miteinander) zu sein. Jungen dürfen sich messen und miteinander raufen. Bei Mädchen wird dies als Zickenkrieg abgetan. Deshalb stehen Schwestern oft unter besonderem Druck, sich gut verstehen zu müssen.
Wo eine so große Erwartungshaltung besteht, kommt es natürlich schnell zu Enttäuschungen. Zum Beispiel, was Kontaktwünsche angeht. Wenn eine Schwester beispielsweise im Erwachsenenalter aufgrund ihrer Arbeits- oder Familienverhältnisse weniger Zeit hat, entzünden sich daran oft Konflikte.
Unsere Geschwister prägen uns genauso wie unsere Eltern
Was ist das Besondere an Ihren Workshops?
Unseren Fokus richten wir auf die Beziehungsdynamik zwischen Schwestern bzw. Geschwistern. Die Idee dazu entstand u.a. auf Grundlage von Cordulas langjährigen Erfahrungen als Gestalttherapeutin: Bei ihren Klient*innen und in ihren Familienaufstellungsarbeiten konnte sie beobachten, dass sich das gemeinsame Aufwachsen mit den Geschwistern genauso prägend auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken wie die Erziehung durch die Eltern. Neuere Geschwisterforschungen bestätigen dies.
Ist die Beziehung zur Mutter die Basis für die Schwesternbeziehung?
Die Mutter ist die erste weibliche Identifikationsfigur für die Kinder. Ihr Verhalten, ihre Kindheit/Sozialisation, Erfahrungen, ungelöste Themen und Probleme fließen in die Familiendynamik, die Erziehung der Kinder und deren Persönlichkeitsentwicklung insbesondere auch bei ihren Töchtern mit ein. Wir gehen in unseren Workshops und Coachings in der Intensität darauf ein, in der die Frauen diesen Punkt einbringen.
Was zeichnet die Schwesternbindung aus? Und wie unterscheidet sich die Schwester-Bruder-Beziehung davon?
Geschwister wachsen sehr nah miteinander auf, Rollenzuweisungen und das erste soziale Lernen findet unter ihnen gemeinsam statt. Insbesondere Schwestern fühlen sich meist sehr nah verbunden und vertraut. Doch als Mädchen identifizieren und vergleichen sie sich auch stark miteinander und werden viel miteinander verglichen.
Dies erfordert, dass sie sich stärker voneinander abgrenzen müssen als gegenüber Brüdern, die eh anders sind. Die Schwestern müssen und wollen ihre eigene Individualität entwickeln, was zu Wettstreit und Konkurrenzkampf führen kann. Zwischen diesen beiden widersprüchlichen Polen fühlen sie sich oft hin- und hergerissen und leiden unter ihren zwiespältigen Gefühlen.
Schwesternbonus: Eine Schwester zu haben, fördert das Sozialleben
Und die Bruderbande? Folgt die Beziehung unter Brüdern ähnlichen Strukturen wie unter Schwestern?
Sicherlich gibt es unter Brüdern genauso Rollenzuweisungen und Ungleichbehandlungen durch die Eltern und ein Miteinander-Vergleichen. Doch Brüder, Jungens stehen weniger unter einem Harmoniedruck – im Gegenteil: sie dürfen sich miteinander messen, raufen und konkurrieren.
Schön mal vom "Cool Sister Effect" gehört? Im Video verraten wir dir, was es damit auf sich hat.
Ist es leichter, eine Schwester oder ein Bruder zu sein, wenn man eine Schwester hat?
In der Geschwisterforschung wurde festgestellt, dass es einen sogenannten "Schwesternbonus" gebe. Eine Schwester zu haben, bringe Vorteile fürs ganze Leben. Wer Schwestern hat, sei motivierter, ehrgeiziger, optimistischer und führe insgesamt ein besseres Sozialleben. Eine Besonderheit unter Schwestern ist laut dieser Studie*, dass sie Gefühle untereinander anders artikulieren und ausleben würden als Brüder.
Frauen zeigen demnach in der Regel eine höhere innerseelische Sensibilität und können dadurch intimere und engere Beziehungen zu ihren Schwestern aufbauen als Brüder oder als gemischt-geschlechtliche Geschwisterpaare. Brüder würden Konkurrenz und Rivalität eher körperlich äußern, während diese zwischen Schwestern meist auf der emotional-verbalen Ebene ausgetragen würden.
* Wright, Liz, Studienautorin, in: »Psychologie heute«, Weinheim, Ausgabe 10/2009
Welche Rolle spielt das Alter?
Alle Schwesternbeziehungen durchlaufen im Laufe des Lebens unterschiedliche Phasen. Jede Phase kann dabei unterschiedliche Licht- und Schattenseiten (Höhen und Tiefen) haben bzw. durch eine unterschiedliche Nähe oder Distanz gekennzeichnet sein. Mit niemandem sonst, wie mit unseren Schwestern, wachsen wir so nah miteinander auf. Sie sind diejenigen, mit denen wir im Elternhaus von der Geburt bis zum Auszug am engsten zusammenleben und auf gleicher, horizontaler Ebene Sozialverhalten und Selbstbehauptung lernen und üben.
Sie sind unsere ersten Peers, die uns unmittelbares, schonungsloses Feedback geben, die unsere empfindlichsten Punkte kennen, die uns total schnell auf die Palme bringen können, mit denen wir aber auch Geheimnisse teilen und mit denen wir uns gegen die Eltern oder andere im Außen verbünden können – sie sind uns am vertrautesten. In der Jugend, Pubertät und jungem Erwachsenenalter gehen die Wege häufig auseinander, jede Schwester ist dann eher mit der Entwicklung ihres eigenen Lebensentwurfes beschäftigt. Bei gleichzeitiger Familienbildung kann es wieder zu mehr Überschneidungspunkten und ähnlichen Interessen und Bedürfnissen kommen.
Wenn die Eltern gehen, ändert sich das Schwesternverhältnis oftmals
Und im späteren Leben?
Im Alter, insbesondere wenn die Eltern krank oder pflegebedürftig werden, erhoffen sich viele Frauen engeren Kontakt und Nähe zu ihren Schwestern. Sind diese nicht vorhanden, entsteht oft das Bedürfnis, das Schwesternverhältnis zu reflektieren mit dem Wunsch, die eigene Haltung und die Beziehung zur Schwester zu klären.
Denn viele Frauen wünschen sich z. B., die Sorge für die Eltern und die damit verbundenen Herausforderungen zu teilen und sich darüber austauschen zu können. Und wenn die Eltern gestorben sind, sind meistens die Geschwister noch die einzigen Menschen, mit denen wir Erinnerungen aus der Kindheit teilen können.
Bruch mit der Schwester. Welche Gründe haben Schwestern, wenn sie sich entschließen, getrennte Wege zu gehen?
Bis Schwestern zu dem Entschluss kommen, den Kontakt stark einzugrenzen oder abzubrechen und getrennte Wege zu gehen, durchlaufen fast alle Frauen einen oft sehr langwierigen und schmerzvollen Prozess. Sie wollen dann nicht mehr immer wieder dasselbe (ohne Erfolg) versuchen und immer wieder verletzt werden.
Weitere Gründe sind Ratlosigkeit und Selbstschutz, das Loslassen von alten Mustern, in der Hoffnung, dass dann evtl. doch noch Veränderungen und Chancen entstehen. Und letztlich Frieden mit der unveränderlichen Situation und mit sich selbst finden.
Wie sieht eine optimale Schwesternbeziehung aus?
Was lernen Schwestern aus einer krisenhaften und konfliktreichen Beziehung?
Für eine Veränderung und Verbesserung meiner Zufriedenheit mit der Beziehung zu meiner Schwester brauche ich sie nicht. Eine Veränderung bei meiner Schwester kann ich eh nicht herbeiführen. Sondern: Nur ich selbst kann mich ändern. Und Veränderung bei mir selbst ist der Ausgangspunkt für Veränderung im Außen: Wenn ich mich bewege, bewegen sich andere mit, so wie bei einem Mobile.
Dazu gehört es, sich selbst und eigene Anteile, z.B. eigene Rollen- und Verhaltensmuster zu reflektieren. Eigene Erwartungen an die Schwester zu überprüfen, sich von alten, überkommenen Rollenzuschreibungen zu verabschieden und auch die Schwester daraus zu entlassen.
Gibt es so etwas wie eine optimale Schwesternbeziehung?
Eine Grundvoraussetzung für ein gutes Verhältnis miteinander ist es, die jeweils andere mit ihrer ureigenen Persönlichkeit anzuerkennen und Unterschiedlichkeiten zu respektieren und zu akzeptieren. Dazu gehört erstens, die eigene Kindheitsrolle (z.B. "Bestimmerin", "Harmonisierende", "Verantwortungsvolle") zu reflektieren und sich von diesen eingefahrenen Rollenmustern zu verabschieden. Und zweitens, die Bereitschaft zum Perspektivwechsel zu haben.
Denn obwohl Schwestern in derselben Familie groß geworden sind, haben sie nicht dieselben Erfahrungen gemacht und oft völlig verschiedene Wahrnehmungen und Erinnerungen, verbunden mit unterschiedlichen Verletzungen, Erwartungen, Rollen- und Schuldzuschreibungen.
Wie sieht ein Perspektivwechsel praktisch aus?
Der Schwester offen und neugierig zu begegnen und sie neu kennenzulernen: "Wie hast du dich eigentlich als Kind und Jugendliche erlebt?" "Was bewegt dich heute wirklich?" – Eben genau so, wie man eine Freundin danach fragen würde, mit einer inneren Haltung von "Ah, so siehst du es! Ach, so erlebst du dies also! Aha, so erinnerst du es!" Wenn wir uns die Einzigartigkeit jedes Menschen – auch der eigenen – bewusst machen, können wir Augenhöhe herstellen und es kann ein echtes und "neues" Interesse aneinander entstehen.
Die häufigsten Konflikte unter Schwestern
- fehlende Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe
- unterschiedliche Kommunikation, die zu Missverständnissen und Unverständnis führt
- wiederholtes Hochkochen von Spannungen und Verletzungen
- Gefühl von fehlender Augenhöhe und "Nicht-Gesehenwerden", also der Wunsch nach Wertschätzung und Anerkennung
- unterschiedliche Kontaktwünsche bzw. unterschiedlicher Umgang mit Nähe und Distanz
- Kontaktabbrüche (z.T. schon über sehr viele Jahre) und gescheiterte Versuche einer Wiederaufnahme des Kontaktes
Die Hauptthemen hinter den Konflikten
- Rollenzuschreibungen aus der Kindheit werden unbewusst/unhinterfragt wiederholt; überkommene Muster/Dynamiken als Auslöser ("Trigger") für das Zurückfallen ins Kindheits-Ich
- sich von Eltern und/oder Geschwister ungerecht behandelt und benachteiligt zu fühlen in der Vergangenheit und/oder Gegenwart
- Entstehung von Neid und Konkurrenz durch Vergleiche untereinander, meist ausgelöst durch ungleiche Behandlungen und Botschaften der Eltern
- voneinander abweichende Erinnerungen, Wahrnehmungen und Familienbilder
- unterschiedliche Erwartungen aneinander
- verschiedene Meinungen und Lebensentwürfe
- Mangel an Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein
Expertinnen Kontakt + Verlinkung Webseite
Cordula Ziebell ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und Gestalttherapeutin in eigener Praxis. Gemeinsam mit ihrer Schwester Barbara Ziebell (Erwachsenenbildnerin) führen sie seit 2010 Geschwister-Coachings und Schwestern-Workshops durch (https://schwestern-workshops.de/).
2021 haben sie ihr Praxis-Buch: "Schwesternbande – wie lebendige Schwestern-Beziehungen gelingen" im Knaur-Verlag veröffentlicht.